Orientierung im Raum – wo bin ich?
Wir verfügen über einen mechanischen Sinn, der uns dabei hilft festzustellen wie wir unseren Körper halten. Dieser Sinn ermöglicht uns auch eine Orientierung im Raum zu finden. Dabei dient die Konstanz der Schwerkraft (immer zum Erdmittelpunkt gerichtet) als Richtgröße. Diese Fähigkeit zählt zu den primitiven und ältesten Sinnen, die sich bereits im Mutterleib, um die neunte Schwangerschaftswoche, entwickeln und bis zum fünften Monat ausgebildet wird. Deswegen sind Bewegungen und Lageveränderungen für Schwangere sehr wichtig, um dem/der Heranwachsenden Sinnesreize zu ermöglichen. Diese Sinnesreize benötigen wir, um ein sehr komplexes sensorisches System – den Gleichgewichtssinn- auszubilden.
Es gibt vier unterschiedliche Möglichkeiten das Gleichgewicht zu verlieren bzw. Erfordernisse das Gleichgewicht zu halten:
- Das statische Gleichgewicht benötigen wir, um eine Position des Körpers zu halten z.B. beim Stehen auf einem Bein, auf dem Kopf oder auf den Händen.
- Das dynamische Gleichgewicht unterscheidet zwei Formen:
- Das aktive dynamische Gleichgewicht verwenden wir z.B., wenn wir Sonnengrüße ausführen, gehen, laufen, springen oder turnen.
- Beim passiven dynamischen Gleichgewicht müssen wir auf verändernde Bedingungen des Untergrundes, wie beim Wellenreiten oder Rodeln reagieren.
- Von Objektgleichgewicht spricht man, wenn es darum geht Gegenstände zu balancieren.
Damit wir statisches, dynamisches und Objektgleichgewicht halten können, muss unser Körper viele Informationen aufnehmen und zusammenführen. Der Gleichgewichtssinn ist ein besonderer Sinn, weil er sich aus mehreren Einzelsinnen zusammensetzt.
Gleichgewicht – mehr als ein Sinn!
Unseren Gleichgewichtssinn können wir als eine Verbindung unterschiedlicher somatosensorischer Wahrnehmungen beschreiben. Die Rezeptoren (Sinneszellen), die uns Informationen zur Wahrnehmung unseres Körpers liefern, sind über den gesamten Körper verteilt. Sinneseindrücke aus Tiefensensibilität, vestibulärer, visueller und taktiler Wahrnehmung werden miteinander in Verbindung gebracht und ermöglichen uns Bewegungen im Gleichgewicht.
Vestibuläre Wahrnehmung liefert Gleichgewicht
Unsere Fähigkeit zur Empfindung und zum Halten von Gleichgewicht wird in der Regel der vestibulären Wahrnehmung zugesprochen. Das vestibuläre System ist das entwicklungsgeschichtlich älteste menschliche Sinnessystem mit Sitz im Innenohr. Das Innenohr besteht aus einem oberen Bläschen (Utriculus) mit den drei Bogengängen, einem unteren Bläschen (Sacculus) und der Schnecke. Eine Empfindung von Gleichgewicht entsteht im Innenohr z.B. durch Haarzellen in den Bogengängen, die durch Drehbeschleunigungen des Kopfes von einer Flüssigkeit verbogen werden. Dieser mechanische Reiz wird als Nervenimpuls ans Gehirn weitergeleitet, wodurch die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit bestimmt werden können.
Das Innenohr liefert dem Gehirn:
- Orientierung im Raum: Wie befindet sich mein Körper im Raum?
- Wahrnehmung linearer Beschleunigungen: Wie wirkt sich die Schwerkraft auf die Lage meines Körpers aus?
- Wahrnehmung von Drehbeschleunigungen: Wie schnell bewege ich mich?
Die Gleichgewichtsrezeptoren des vestibulären Systems können als Kommunikationszentrale betrachtet werden, weil sie zu unzähligen Teilen des Gehirns, zu Muskeln, Gelenken, Haut, Augen und Ohren in Verbindung treten. Als erstes pränatal ausgereiftes Sinnessystem werden alle Sinnesempfindungen in Bezug zu den vestibulären Informationen gesetzt und verarbeitet. Dabei ist die Verbindung zu unseren Augen- und Nackenmuskeln besonders beeindruckend. Unser Gleichgewichtssystem muss die Bewegungen unseres Kopfes, unseres Körpers und unserer Augen interpretieren können, damit es Bewegungen in die Blickrichtung veranlassen kann.
Visuelle Wahrnehmung und Gleichgewicht
Warum schwanken wir in Gleichgewichtsübungen mit geschlossenen Augen mehr als mit geöffneten? Der Grund ist, dass unsere Augen einen großen Beitrag für das Gleichgewicht leisten. Die Augen senden ständig ein drei-dimensionales Bild unserer Umgebung ans Gehirn. Durch das Sehen erhalten wir ein Bild, wo wir uns im Raum befinden. Sehr deutlich spürbar wird der Zusammenhang unserer Augen mit dem Gleichgewicht, wenn wir uns auf einen Fuß stellen und dabei die Augen schließen. Wir wackeln bei geschlossenen Augen mehr als mit geöffneten. Bei geschlossenen Augen fehlen unserem Körper Informationen darüber, wo wir uns im Raum befinden. Zudem bekommt unser Gehirn keine Impulse durch die Bewegungen der Augen. Unser Gehirn hat einen eingebauten Bildstabilisator, der sich Vestibulookulärer Reflex nennt. Es handelt sich um ein Zusammenspiel von Gleichgewichtssinn im Innenohr und den Bewegungen der Augen. Mithilfe dieses Reflexes kann ein stabiles Bild erzeugt werden, auch wenn sich unser Kopf oder Körper bewegen. Wird ein Punkt fixiert und soll dieser Punkt weiterhin betrachtet werden, auch wenn sich der Kopf bewegt, dann müssen sich unsere Augen bewegen bzw. ein Mitbewegen der Augen muss verhindert werden, damit das Gesehene scharf bleibt. Diese Anpassung der Blickrichtung liefert unserem Gehirn Informationen darüber, dass eine Bewegung stattfindet und in welche Richtung sie verläuft. Bei geschlossenen Augen fehlt nun dieser visuelle Fixpunkt, wodurch es für das Nervensystem schwieriger wird, anpassende Ausgleichsbewegungen zu veranlassen.
Tiefensensibilität und Gleichgewicht
Über das vestibuläre System bekommt unser Gehirn zwar grundlegende Informationen darüber, ob der Kopf sich bewegt oder geneigt ist, da es aber keine Signale aus dem gesamten Körper bekommt, ist Fortbewegung nicht möglich. Darum muss die vestibuläre Wahrnehmung in Beziehung zum Rest des Körpers gesetzt werden. Die Propriozeption oder Tiefensensibilität verschafft dem Körper genau diese, für das Gleichgewicht so wichtigen, Informationen aus dem Körperinneren über Ereignisse, die die Lage, Haltung und Bewegung des Körpers betreffen. Ohne die Tiefensensibilität fehlen uns Empfindungen für Bewegungen, Lage und Haltung des eigenen Körpers im Raum und somit auch die Fähigkeit, uns im Raum zu bewegen. Die Propriozeption ist somit ein wesentlicher Teil der Eigenwahrnehmung und ermöglicht folgende Funktionen:
- Stellungs-, Lage-, oder Positionssinn: Empfindung über die aktuelle Ausgangstellung des Körpers, die Position im Raum und die Stellung der Gelenke zueinander
- Bewegungssinn oder Kinästhesie: Kontinuierliche Rückmeldung über das Bewegungsausmaß und die Lage des Körpers bei Bewegung
- Kraft- und Widerstandssinn: Vermittlung und Dosierung zwischen Druck und Zug der Muskulatur und Sehnen
Spezielle sensorische Rezeptoren – sogenannte Propriozeptoren – sitzen in unseren Muskeln und Gelenken, um Informationen über Bewegungen, Haltung und Position unseres Körpers im Raum zu liefern. Sie reagieren auf Zug und Druck also auf Verformungen unserer Körperteile. Sind diese Reize im Gehirn angekommen, entscheidet es über mögliche und nötige Positionsanpassungen des Körpers und sendet entsprechende motorische Befehle an die Muskeln zurück.
Die enge Verbindung zwischen Gleichgewicht und Muskulatur ist die Grundlage für jegliche Bewegung. Wir benötigen konstante Informationen aus dem vestibulären System für jede muskuläre Aktivität. Unsere Empfindungen durch das Gleichgewichtsorgan haben entscheidenden Einfluss auf den Haltetonus unserer Muskulatur. Der Haltetonus bestimmt die Muskelspannung zur Stabilisierung und Aufrichtung. Zudem beeinflusst der Vestibulärapparat den Bewegungstonus der Muskulatur und damit die Muskelspannung in Bewegung. Sofern das vestibuläre System eine angemessene Muskelspannung erzeugt, kann sich der Körper mühelos gegen die Schwerkraft ausrichten und aufrecht halten. Erst durch das Zusammenspiel von vestibulärer Wahrnehmung und der Eigenwahrnehmung des Körpers können gezielte, zeitgenaue und flüssige Bewegungen ausgeführt sowie Ausgleichsbewegungen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts eingeleitet werden.
Taktile Wahrnehmung und Gleichgewicht
Damit wir zu einem optimalen Gleichgewicht gelangen, braucht unser Gehirn Informationen aus der Umgebung, die es über das taktile System erhält. Unser Tastsinn oder unsere Oberflächensensibilität verschafft dem Organismus Informationen über externe Ereignisse, welche die Körperoberfläche betreffen. Dazu zählen die Hautsinne, welche Berührung, Druck, Oberflächenbeschaffenheit, Temperatur und Schmerz mitteilen. Über die taktilen Informationen wird das Gehirn darauf aufmerksam gemacht, ob ein Reiz gefährlich, ungefährlich, angenehm oder unangenehm ist. Die passenden Rezeptoren liegen in der behaarten und unbehaarten Haut. Unsere Haut umhüllt uns nicht einfach nur, sie ist auch eines unserer wichtigsten Sinnesorgane. Sie ist entwicklungsgeschichtlich unsere erste Kontaktquelle zur äußeren Welt. Durch Tastkörperchen in der Haut können wir die Umwelt durch Tasten wahrnehmen: jeden Druck, jede Berührung, jeden Windhauch. Die meisten befinden sich an Handtellern, Fingerspitzen und Fußsohlen, die wenigsten am Rücken. Treten Reize auf, melden die Sinneszellen die Erregung über das Rückenmark an das Gehirn, und erst dort wird das Gesamtbild analysiert und interpretiert. Für unser Gleichgewicht ist unser Tastsinn relevant, damit unser Körper erfährt, an welchen Stellen Verbindung zu anderen Objekten, wie z.B. dem Boden, besteht. Damit erfahren wir die Lage unseres Körpers. Erst, wenn zum reinen Fühlen auch das Umfeld hinzugerechnet wird, können Menschen angemessen reagieren. Erhalten wir einen Stoß oder laufen gegen einen Gegenstand, bekommen wir die Berührung durch unseren Tastsinn mit. Schon mit der Berührung erfährt unser Körper, dass er möglicherweise aus der Balance gerät. Ist die Zusammenkunft etwas kräftiger, wird der Rest des Gleichgewichtssystems aus Vestibulärapparat, visueller Wahrnehmung und Propriozeption eine Bewegung darauf folgen lassen, sodass sich die Lage unseres Körpers ausgleichend verändern kann und das Gleichgewicht gehalten wird.
Yoga als Training für das Gleichgewicht
Auch wenn das Gleichgewicht ein sehr komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Sinne ist, kann es wie jede andere Fähigkeit trainiert werden. Wer Yoga übt, wird bestätigen können, dass sich das Gleichgewicht verbessert hat. Grund dafür ist, dass wir in unterschiedlichen Schrittlängen und Fußpositionen auf dem Boden oder auf einem Bein stehen, wir balancieren auf dem Po, finden unser Gleichgewicht vielleicht sogar auf dem Kopf oder auf den Händen. Doch beginnt man Yoga zu üben, ist es häufig schwierig in Gleichgewichtshaltungen sicher zu stehen. Durch das wiederkehrende Üben lernt der Körper die neuen Reize neuromuskulär zu integrieren, wodurch mehr Sicherheit bei fordernden Gleichgewichtshaltungen entsteht. Üben wir Yoga mit herausfordernden Gleichgewichtspositionen, bei denen wir Gefahr laufen auch mal das Gleichgewicht zu verlieren, provozieren wir einen regen Austausch unserer Sinnessysteme. Durch die Herausforderung und die anfängliche kleine Überforderung unseres Gleichgewichts, schaffen wir eine Notwendigkeit zur Anpassung und Neuausrichtung unserer Gleichgewichtsorgane. Wir vernetzen und festigen neuromuskuläre Bahnen, sodass unser Körper immer besser darin wird auf verändernde Reize, die das Gleichgewicht beanspruchen, passend zu reagieren. Nur wenn wir unserem Körper ermöglichen die Grenzen des eigenen Gleichgewichts zu erforschen, kann das Gleichgewicht verbessert werden.
Autor: Niels Gödecke von Vapa Yoga in Greifswald.