Die Anwendung von Drishti (Teil 2)
Unsere Augen sind täglich in Bewegung. Diese Bewegungen brauchen wir nicht bewusst zu steuern. Die Augen können sich bewegen, weil sie von Muskeln umzogen sind. Doch der Bewegungsmangel in unserer Gesellschaft macht auch bei den Augen keinen Halt. Unsere Augen bewegen sich zu wenig, wenn wir zu viel Zeit vor Bildschirmen von Computern, Fernsehern oder Handys verbringen. Beim Blick auf den Bildschirm besteht für die Augen keine Notwendigkeit sich ausschöpfend zu bewegen. Die Augen bewegen sich auf einem kleinen Punkte in kleinen Bewegungen hin und her. Je länger wir unsere Augen so nutzen, desto starrer werden sie – denn motorische Funktionen, die nicht ausreichend genutzt werden, bilden sich zurück. Wird Muskulatur nicht ausreichend bewegt, baut sie ab, wird kürzer, schwächer und verspannt. Die einseitige Nutzung unserer Augen verschlechtert die Einstellung auf unterschiedliche Entfernungen, wodurch die Orientierung und die Sehfähigkeit eingeschränkt werden können. Durch die Verbindung der Augenmuskeln mit Hals- und Nackenmuskeln übertragen sich Spannungen wechselseitig.
Ashtanga Yoga bietet in seiner Komplexität eine einfache Methode, um die Gesundheit und Funktion der Augen zu erhalten. Aber wie genau nutzen wir unsere Augen in der Ashtanga Yoga Praxis? Dieser Beitrag soll Licht ins Dunkel bringen.
Ein Kernelement des Ashtanga Yoga sind die sogenannten Drishti oder Blickpunkte. Bereits in einem vergangenen Blogbeitrag (Drishti – die Kraft der Augen – Teil 1) haben wir über Drishti (Sankrit: dṛṣṭi - sehen, erblicken, schauen) und die Rolle der Augen berichtet.
4 Prinzipen zur Anwendung von Drishti
In diesem Beitrag geht es darum, die Anwendung und Handhabbarkeit der Blickpunkte zu vereinfachen und verständlich zu machen. Deswegen werden im Folgenden 4 Prinzipien zur Anwendung von Drishti beschrieben.
Prinzip 1: Verbindung von Bewegungen des Körpers mit den Bewegungen der Augen
Während unserer bewegten Übungspraxis geben wir unseren Augen eine Aufgabe: Wir verbinden die Bewegungen des Körpers mit den Bewegungen der Augen. In Anlehnung an Pratyahara ziehen wir unseren exterozeptiven, nach außen gerichteten Sehsinn zurück, um mehr von unserem Inneren spüren zu können. Geben wir unseren Augen keine Aufgabe, suchen sie sich eine bzw. bekommen unbewusst und unkontrolliert eine Aufgabe von unserem Geist. Bewerten wir eine Situation als interessant oder bedrohlich, werden sich die Augen darauf ausrichten. In der Regel sollte der Yogaunterricht wenig bedrohlich und die Wahrnehmung des eigenen Seins das Interessanteste sein. Mit anderen Worten: Es besteht keine Notwendigkeit die Augen umherwandern zu lassen, sodass wir ihnen eine andere Aufgabe geben können. Dabei können wir erleben, wie reflexhaft und schnell sich unsere Augen bewegen und durch äußere Reize binden lassen. Genauso erfahren wir Momente der Ruhe und Innenkehr, wenn die Augen mit der Bewegung in Einklang kommen.
Prinzip 2: Wenn die Bewegung ruht, ruht der Blick
In der Ashtanga Yoga Praxis haben wir dynamische und statische Bewegungen. In den statischen Phasen halten wir den Blick auf einem Punkt. Dabei nutzen wir je nach asana unterschiedliche Blickpunkte. Wir unterscheiden 9 Blickpunkte bzw. Blickrichtungen: Augenbrauenzentrum, nach oben, Nasenspitze, Daumen, Hand, nach rechts oder links, Nabel und Zehen.
Prinzip 3: Der Blick folgt der Bewegung bzw. die Bewegung folgt dem Blick
Ashtanga Yoga ist prinzipiell sehr simpel – wir atmen ein und aus, wir bewegen uns hoch und runter. Diese Einfachheit können wir auf die Blickrichtungen übertragen. Wir schauen in die Richtung, in die wir uns bewegen. Wenn wir uns beispielsweise hoch bewegen, schauen wir hoch oder wir drehen uns nach rechts und der Blick folgt entsprechend nach rechts.
In unserem Unterrichtsstil gehen wir vom Groben ins Feine. Das bedeutet, dass wir zunächst die Bewegungen unterrichten und uns dann den feineren Bestandteilen der Übungspraxis zuwenden. Deutlich feiner wird es, wenn wir Drishti integrieren. Aus diesem Grund sprechen wir davon, dass der Blick der Bewegung folgt. Der Blick folgt, weil die Bewegung zuerst da war. In alltäglichen Bewegungen ist es aber eher so, dass die Bewegung dem Blick folgt. Wir schauen zuerst in die entsprechende Richtung, in die wir uns bewegen wollen. Unsere Augen leiten unsere Bewegungen und sind schneller als der Rest unseres Körpers, um die Bewegungen vorzubereiten.
Prinzip 4: Blickpunkte können individuell angepasst werden
Die Anwendung von Blickpunkten kann von Person zu Person variieren. Damit stellen die Blickpunkte keine feste Vorgabe dar, sondern bieten die Möglichkeit zur Anpassung an die individuelle Praxis und die eigenen körperlichen Gegebenheiten. Durch Drishti kann eine Bewegung intensiviert werden. Allgemein können wir festhalten, dass eine Bewegung intensiver wird, wenn wir in die Richtung schauen, in die wir uns bewegen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir eine Bewegung abmildern können, wenn wir in die entgegengesetzte Richtung schauen. Mit diesem Wissen können wir entscheiden, ob wir mehr Mobilität (Blick in die Bewegungsrichtung) oder mehr Stabilität (Blick entgegen der Bewegungsrichtung) in einer Haltung anstreben. Ergänzend können wir hinzufügen, dass der Blick nach oben die Tendenz zur Rückbeuge verstärkt und der Blick nach unten die Tendenz zur Vorbeuge. Die Begründung für dieses vierte Prinzip wird in der ersten Wirkungsweise (Drishti unterstützt die Bewegung) verdeutlicht und im nächsten Beitrag (Wirkungsweisen von Drishti (Teil 3)) beschrieben.
Autor: Niels Gödecke von Vapa Yoga in Greifswald.